„Man hätte eine Stecknadel fallen hören können“ – so lautete der Kommentar einer Zuhörerin am Schluss. Heike Brandstädter hatte ihren Vortrag unter das Motto der aktuellen Spielzeit gestellt: „Wer entscheidet Zukunft?“ Das Drama „Antigone“, so führte sie aus, kreist um die Frage der Entscheidung: wer was wie entscheidet. Und: mit wem, gegen wen, für wen? Mehr noch: was es heißt, wenn Entscheidung bereits vor Beginn der Geschichte feststeht, weil die Götter oder der Fluch oder das Erbe bereits entschieden haben. Am Maßstab der Entscheidung oder ihrer Unmöglichkeit wurden die Hauptfiguren unter die Lupe genommen: Kreon, Antigone, Haimon, Ismene.
Vorab ging der Vortrag auf die komplizierte Textüberlieferung ein. Denn die Frage nach dem Text, seinen Übersetzungen und Bearbeitungen, birgt einiges an Sprengkraft: Was darf man sich unter dem „Original“ des Sophokles vorstellen? Welche Tücken hat die Übertragung dieses Originals durch Friedrich Hölderlin? Welche Änderungen nimmt die Bearbeitung durch Martin Walser und Edgar Selge vor? Denn jene bildete die Grundlage der Konstanzer Inszenierung.
Die Figuren – ihre Entscheidungen, ihr Schwanken und ihr Scheitern – entwickelte Heike Brandstädter mithilfe eines großangelegten Instrumentariums aus altgriechischem Weltbild, kulturwissenschaftlicher Forschung und zeitgenössischer Literaturtheorie. In einem faszinierenden Panorama wurden zahlreiche Reibeflächen des Dramas beleuchtet: der weibliche Trauerkult als ritualisiertes Verhalten, der Umschlag von vernunftgeleiteter Politik in unbelehrbare Willkür, die Anmaßung und Selbstvergottung beider Hauptfiguren. Beliebten Deutungsmustern, die in Antigone bloß die Widerstandsfigur, in Ismene nur die Mitläuferin, in Kreon nur den Tyrannen und in Haimon gar eine überflüssige Figur sehen, erteilte der Vortrag eine Absage. Sinn und Zweck war vielmehr, jede Figur maximal zu befragen, zu weiten und auszuleuchten.
Kultur- und Literaturwissenschaft verständlich und nachvollziehbar darzustellen – das ist Heike Brandstädter wieder einmal gelungen. Die anschließende, lebhafte Diskussion mit dem Publikum knüpfte wissbegierig an die Ausführungen an: Wie war das mit dem Trauerkult im Alltag? Welche Funktion hat das Vogelmotiv im Drama? Hat die Inszenierung auch Ismene als Täterin in Betracht gezogen? Die Dramaturgin Sabrina Toyen und die Darstellerin der Ismene, Lilian Prent, waren mit von der Partie und gaben Einblicke in die Inszenierung. Sie zeigten sich begeistert von der Deutung – und der Fülle der wissenschaftlichen Anregungen.