Wissen wir, was wir sehen? Mit dieser hochaktuellen Frage eröffnete Heike Brandstädter ihren Vortag und zugleich den Blick auf die Komplexität von Zeichen: Was bedeutet der schwierige Titel von Thomas Köck? Diese Frage führte zunächst in die Vergangenheit des Stücks: auf den Mythos und die griechisch-antike Fassung von Sophokles – und damit auf die Unterschiede von Original und Übersetzung, Neufassung und Überschreibung. Ein Exkurs zu anderen Fassungen seit dem 18. Jahrhundert machte die Bandbreite des Ödipus-Themas deutlich.
Weil das Sehen und sein Gegenteil, die Blindheit, ein Hauptmotiv der Erzählung ist, das alle Figuren miteinander verbindet, wurde auf dieses Motiv intensiv eingegangen. Naturgemäß erhielt Ödipus als Hauptfigur besondere Aufmerksamkeit. Ist Ödipus ein verschlepptes, misshandeltes Kind? Ein Vaterloser? Ein Vatermörder? Einer, der ein schweres Erbe trägt? Oder der es mitverschuldet hat? Ist er ein selbstloser Erlöser? Oder ein Egomane, ein Autokrat, „bigfoot Ödipus“, der nicht sehen, nicht wissen will? Und: welche Art von Schuld kommt Ödipus, welche den anderen Figuren zu? Dies ließ sich an ausgewählten Textstellen aufzeigen.
War bei Sophokles die Pest noch das Grundübel gewesen, so ist bei Thomas Köck der Mensch selbst die Krankheit. Das Stück lotet über seine Figuren zwar verschiedene Weisen des Umgangs mit dieser Krankheit aus, nimmt aber dem Publikum die Entscheidung nicht ab, was, wie Heike Brandstädter herausstellte, gerade großes Theater ausmacht. Im anschließenden Gespräch mit den Ensemblemitgliedern Ulrich Hoppe und Ruth Macke sowie der Dramaturgin Carola von Gradulewski wurde thematisiert, wie man sich in die überaus komplexen Rollen und Texte hineinfindet, aber auch die Drahtseilakte des Bühnenbilds meistert. Erneut war es eine hochanregende, gehaltvolle Veranstaltung, die von unserem Vorstandsmitglied Renate Schwalb anregend und klug moderiert wurde.